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Gespräch mit Catherine Kontz

von Marguerite Haladjian
Catherine Kontz steht neben einem Fenster und lächelt in die Kamera

Mit dieser Neuausgabe findet ein angesehenes Festival zur Würdigung der zeitgenössischen Musik, in dessen Rahmen bereits ihre eigenen Werke aufgeführt wurden, erstmals unter Ihrer Leitung statt. Es steht unter dem Vorzeichen der Erinnerung. Warum haben Sie sich für diese Thematik entschieden?

Für mich bildet die Erinnerung den Dreh- und Angelpunkt der Weise, in der wir Musik erleben und mit ihr leben. Musik kann weder aus dem Nichts entstehen noch ohne persönlichen und historischen Hintergrund gehört werden. Das Erklingen eines Musikstücks oder sogar eines einzelnen Tons kann Erinnerungen auslösen, uns in die Vergangenheit zurückversetzen, bestimmte Augenblicke, Orte und Menschen ins Gedächtnis rufen. Darüber hinaus wird Musik auch eingesetzt, um die Leistungsfähigkeit unseres Gehirns zu erhöhen, Alterungsprozessen und Gedächtnisstörungen entgegenzuwirken. Gleichzeitig ist Musik entscheidend für die Schaffung einer Atmosphäre, die den Rahmen bildet für unvergessliche Augenblicke unseres Lebens, wenn wir in Trauer sind, Feste feiern oder Freunde treffen. Jede(r) besitzt ihren (seinen) eigenen „Soundtrack des Lebens“, und unsere kollektive Wahrnehmung der uns umgebenden Welt geschieht vor dem Hintergrund der Musik unserer Zeit. Folglich sind Musik und Erinnerung in vielfältiger Weise miteinander verknüpft, und das Thema eignet sich ebenso gut für ernste und anspruchsvolle Veranstaltungen wie für unterhaltsame Darbietungen und zwanglosere Erlebnisse.

 

Wie planten Sie Ihr reichhaltiges und vielseitiges Programm, das sich auf vier sehr ausgefüllte Tage verteilt?

Ich wollte das Thema aus möglichst vielen Perspektiven beleuchten. Manche Werke sind das, was ich als Klassiker der zeitgenössischen Musik bezeichne, wie z. B. Triadic Memories von Morton Feldman, ein Stück, in dem der Komponist mit dem Kurzzeitgedächtnis des Publikums spielt, Memory Space von Alvin Lucier, bei dem die Interpreten aufgefordert werden, eine akustische Situation aus ihrer Erinnerung wiederzugeben, oder auch sein berühmtes Werk I am Sitting in a Room, bei dem der Zuhörer die Zerlegung des Tons in Echtzeit erlebt, während die Tonbandgeräte pausenlos denselben Text aufzeichnen. Ich betrachte diese Komponisten und ihre Werke als Bezugsgrößen des Festivals, und auf dieser Grundlage habe ich das Programm aufgebaut.

Bei manchen Kompositionen handelt es sich um Auftragswerke, die für das Festival entstanden sind. Die Komponisten wurden eingeladen, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Beispielsweise veranstalten wir ein Konzert mit dem Ensemble ARS Nova Luxembourg, für das fünf Komponisten aus verschiedenen Generationen aufgefordert wurden, sich von einer Fotografie aus ihrer Kindheit zu einem Werk inspirieren zu lassen. Das Abenteuer setzt sich fort mit den Uraufführungen des jüngsten Stücks der britischen Komponistin Errollyn Wallen für das Philharmonische Orchester von Luxemburg, des Werks von Joanna Bailie für das Ensemble Ictus, das sich mit der Vorstellung von Wänden mit Ohren und einem abspielbaren Speicher befasst, sowie der Komposition des amerikanischen Komponisten Christian Wolff aus der Generation der experimentellen Musik.

Weitere aktuelle Werke erörtern das Thema in einer Weise, welche das Programm des Festivals erweitert und bereichert. Beispielweise die Installation For Ruth von Annea Lockwood, die tatsächlich die geteilte Erinnerung einer Person, eines Partners oder Geliebten, darstellt. Dasselbe gilt für remember me von Claudia Molitor, ein Opernprojekt, das entstanden ist aus einem Schreibtisch, den die Komponistin von ihrer Großmutter geerbt hat und für diese Veranstaltung in eine Installation umgewandelt hat. Ka von Bushra El-Turk, eine Art Konzert für Percussion und Streicher, bringt musikalisch die Suche nach der Seele des Vaters zum Ausdruck. Das Werk wurde soeben in England für den Preis IVORS nominiert.

 

Das heutige musikalische Schaffen ist sehr lebendig, oder besser gesagt intensiv. Entsprechend der persönlichen Musikauffassung und Empfindsamkeit bahnt es sich unterschiedliche Wege zwischen Ahnungen und Geistesblitzen und erscheint in Gestalt von Improvisationen, einer Musik traditioneller Wesensart oder experimenteller Ansätze, welche im Bestreben, einem einfallslosen Konservatismus zu entkommen, die musikalische Sprache und die bestehenden Formen in Frage stellen. War es Ihnen wichtig, die vielfältigen Möglichkeiten und einzigartigen Laufbahnen der Komponisten von heute hervorzuheben?

Meiner Meinung nach können wir uns heute glücklich schätzen, eine solche Bandbreite in der Kunst und in der Musik erleben zu dürfen. Es gibt Trends und Strömungen, und die Stilrichtungen und Vorstellungen sind ebenso zahlreich wie die Komponisten. Ich bin selbst in unterschiedlichen Bereichen der Musik tätig und bei diesem Festival der zeitgenössischen Musik wollte ich zeigen, was für ein breites Spektrum die Musik uns heutzutage zu bieten hat. Bei näherem Hinsehen erkennt man, dass das Streben nach Neuem auf der Grundlage einer mutigen, experimentellen Suche die unterschiedlichen Stile eint. Wir komponieren nicht, um eine Musik mit bereits bekannten Ausdrucksformen und Klangfarben nochmal zu erschaffen. Dafür haben wir Archive voller musikalischer Werke, die jederzeit aufgeführt werden können. Als Komponisten streben wir nach einer Musik, die erneuert, Neugier weckt und in der sich unsere Zeit spiegelt. Wenn wir dabei einen Rückblick wagen, geschieht dies in einer bestimmten Absicht, bei der es sich beispielsweise um die Neuinterpretation eines Fundus aus der Vergangenheit handeln kann. Jedes Werk, das während des Festivals aufgeführt wird, wurde sorgfältig und bewusst ausgewählt, weil es ein Puzzleteil eines allgemeinen ästhetischen Konzepts bildet. Als künstlerische Leiterin plante ich das Festival als groß angelegte Aufführung, welche die Besucher in Teilen oder als Gesamtheit genießen können. Wir beginnen am Donnerstagmorgen mit der Vorstellung eines wundervollen Projektes, welches das Ergebnis einer sechswöchigen Arbeit mit von Demenz betroffenen Menschen darstellt und gemeinsam mit einem großartigen Team aus Musikern und Künstlern entwickelt wurde, und wir beenden das Festival am Sonntagabend mit Laurie Anderson, einer meiner persönlichen Heldinnen, die für ihre künstlerischen Erzählungen und Darbietungen bekannt ist.

Sie haben sowohl Werke berühmter Künstler als auch Stücke aufstrebender junger Komponisten aus verschiedenen Teilen der Welt auf das Programm gesetzt. Worin bestand Ihr künstlerischer Anspruch?

Ich liebe es, Leute zusammenzubringen, damit sie ihre Arbeit und ihre Erfahrungen miteinander teilen. In der zeitgenössischen Musikszene scheint mir dieser Ansatz von wesentlicher Bedeutung zu sein. Das Thema ist nicht nur ein verbindendes Element, sondern auch ein Weg, Publikumsgruppen zu erreichen, die vielleicht keine Experten der Musik von heute sind. Ich habe die Veranstaltung so aufgebaut, dass Künstler aus allen Teilen der Welt sich hier begegnen und sich unter die zahlreichen, in der Region lebenden und wirkenden Komponisten und Musiker mischen, die ebenfalls auf dem Programm stehen. Die Vorstellung, dass sie sich im kleinen Luxemburg treffen, obwohl manche von ihnen aus so fernen Ländern wie Australien, Kanada, den USA oder Japan kommen, erfüllt mich mit Freude und Stolz. Ich habe das Programm bewusst integrativ und vielseitig gestaltet, sowohl in Bezug auf die Künstler als auch auf das Publikum. Meiner Ansicht ist ein Festival ein kommunikationsfördernder Raum, ein inspirierender Filter, der jedem die Möglichkeit bietet, im Austausch mit anderen auf originelle Ideen zu kommen, Werte zu teilen, um gemeinsam beflügelnde und schöpferische Augenblicke zu erleben.

 

Wie werden die zahlreichen Konzerte und Begegnungen, die Sie organisiert haben, in den Räumen der Philharmonie ablaufen?

Wir verkaufen Tageskarten und Eintrittskarten für das gesamte Festival, denn ich möchte, dass die Zuhörer mehrere Konzerte besuchen, wenn sie hierher kommen. Das Erlebnis muss sich von dem üblichen Besuch einer gewöhnlichen Veranstaltung in der Philharmonie unterscheiden. Ich wünsche mir, dass das Publikum neugierig ist, dass es eine bisher unbekannte Musik entdeckt und vielleicht zu seiner eigenen großen Überraschung lieben lernt.

Die Zuhörer sollen mit zahlreichen glücklichen Eindrücken in den Ohren und im Herzen und von Freude erfüllt zurückkehren, sodass sie für die dunklen Wintermonate gewappnet sind! Die Konzerte dauern praktisch nie länger als eine Stunde, sodass es möglich ist, an einem einzigen Tag mehrere kurze Konzerte zu hören. Terminlich überschneiden sich die Programme nicht, damit das Publikum alles hören und sehen kann. Es gibt auch Räume, die einladen, sich zu entspannen, sich zu stärken, Bekanntschaften zu schließen, Kontakte zu knüpfen und Freundschaften zu pflegen. Ich hoffe, die Leute erleben eine angenehme Zeit, an die sie sich später gerne erinnern.

 

Wie gestalten sich die Gedächtnisspiele zwischen der Musik der vor Ort stattfindenden Livekonzerte und den über QR-Codes abrufbaren Aufnahmen, welche die Beziehung zu früheren musikalischen Erlebnissen neu beleben?

Bei den meisten Konzerten handelt es sich um Live-Veranstaltungen, doch gleichzeitig haben wir fünf Installationen im Foyer, die während der Dauer des Festivals erlebt werden können. Eine von ihnen verwendet QR-Codes und lädt zu einer kleinen Schatzsuche durch die Philharmonie ein. Sie bietet Gelegenheit, durch dieses zauberhafte Gebäude zu flanieren, seine Architektur zu bestaunen und dabei immersiv der luxemburgischen Musik des letzten Jahrhunderts zu lauschen. Jede Musik war in ihrer Entstehungszeit neu!
Außerdem haben wir einen Raum gestaltet, der während des gesamten Festivals zugänglich ist und sowohl eine Installation als auch Live-Musik beinhaltet. Owen Spafford und seine Freunde führen hier die traditionelle irische und englische Musik auf, während über Lautsprecher Interviews mit volkstümlichen Musikern wiedergegeben werden. Meiner Ansicht findet hier der gemütliche Teil der Veranstaltung statt. Also bringen Sie Ihr Instrument mit und nehmen Sie ganz zwanglos an der Party teil!

 

Welches Publikum möchten Sie während dieser vier Tage ansprechen, indem Sie mithilfe des aktiven Hörerlebnisses die direkte Kommunikation fördern?

Ich hoffe, die Community der zeitgenössischen Musik in Luxemburg und in der benachbarten Großregion zu erreichen. Außerdem würde ich gern Personen, die Konzertveranstaltungen der neuen Musik normalerweise nicht besuchen, dazu motivieren, sich von der Atmosphäre dieses Festivals anstecken zu lassen. Der Sonntag ist auch als Familientag vorgesehen, mit zahlreichen interessanten Veranstaltungen, die für ein junges Publikum (ab 6 Jahren) geeignet sind.
Es gibt so viele falsche Vorstellungen und Vorurteile über die Musik von heute! Häufig ist den Leuten gar nicht klar, wie viele verschiedene Gattungen und Stile es gibt. Ebenso wie Ihnen nicht automatisch alle neu erscheinenden Bücher oder alle Gemälde der jüngsten Generation in einer Galerie gefallen, werden Sie wahrscheinlich nicht die gesamte dargebotene Musik mögen. Aber wäre es nicht schade, nur Museumskunst anzuschauen und nur die klassische Literatur zu lesen? Kommen Sie mit offenen Ohren und Augen, und ich bin überzeugt, dass Sie sowohl auf menschlicher als auch auf künstlerischer Ebne wertvolle Erfahrungen mitnehmen werden.

 

 

Das Interview führte die Musikkritikerin Marguerite Haladjian.